Volume 30 (December 1998) Number 6
Analyses: Mathematics teaching and democratic education. Part 1
Part 2Einführung: Demokratische Erziehung im Mathematikunterricht - kann es das geben?
Hartmut Köhler, Stuttgart (Germany)Als Einleitung zu den in diesem und im nächsten ZDM-Heft zusammengestellten Artikeln zum Thema Mathematikunterricht und demokratische Erziehung, skizziert dieser Beitrag die Möglichkeit, das Thema von einem genuin pädagogischen Begriff von Bildung her aufzugreifen. Dabei wird zumindest die Berechtigung des Themas unabweislich.
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Democratic education in the mathematics classroom - is this possible? As an introduction to this and the next ZDM-issue tackling the problem of mathematics teaching and democratic education, this contribution outlines the possibility of a systematical view on the problem starting with the German concept of Bildung. Thus at least a positive answer to the question of the headline becomes irrefutable.
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Mathematics Teachers as Democratic Agents
Kevin Harris, Sydney (Australia)This paper considers the role of schools, and particularly that of all teachers (including mathematics teachers), in the construction of social democracy. It is argued that, in the present context of economic rationalism, in which teachers are becoming progressively deprofessionalised, and in which schools are being increasingly subjected to market forces, there is an urgent need to challenge the effects of economic rationalism on education, and especially to produce better educated and more highly professionalised teachers. Further, and more significantly, it is argued that such teachers, having (i) a significantly broadened knowledge base, (ii) a deep commitment to political change leading to democratic social life, and (iii) greatly increased power enabling them to regain control of their professional discourse and the process and content of schooling, might then, as teachers of subjects and children, simultaneously undertake a leading role in the difficult task of social reconstruction directed towards promoting increased autonomy and real democratic participation of the citizenry.
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Mathematiklehrer als Agenten für Demokratie. In diesem Beitrag wird die Rolle der Schule und insbesondere die aller Lehrer, Mathematiklehrer eingeschlossen, bei der Herausbildung einer sozialen Demokratie betrachtet. Im Zusammenhang mit dem derzeitigen ökonomischen Rationalismus, in dem Lehrer mehr und mehr entprofessionalisiert und Schulen in zunehmendem Maße den Kräften des Marktes unterworfen werden, hält der Autor es für dringend erforderlich, die Auswirkungen des ökonomischen Rationalismus auf Bildung und Erziehung zu hinterfragen und vor allem für eine bessere Bildung und Professionalisierung der Lehrer zu sorgen. Des weiteren argumentiert er, daß Lehrer, als Lehrer von Fächern und von Kindern, gleichzeitig eine führende Rolle bei der schwierigen Aufgabe der sozialen Rekonstruktion in Richtung auf eine Förderung größerer Autonomie und wirklicher demokratischer Partizipation der Bürgerschaft übernehmen, wenn sie (i) eine wesentlich erweiterte Wissensbasis haben, (ii) sich für einen politischen Wandel hin zu einem demokratischen sozialen Leben engagieren und (iii) über wesentlich größere Macht verfügen, welche es ihnen ermöglicht, Kontrolle über ihren professionellen Diskurs sowie Prozeß und Inhalte schulischer Bildung wiederzugewinnen.
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Mathematics Teaching is Democratic Education
Colin Hannaford, Oxford (Great Britain)It is a commonly held belief that mathematics teaching has no political effects. Astonishingly, however, the fact is that the style of argument now used in mathematics everywhere was not developed originally to do mathematics. Originally its function was to counteract the teaching by the early Greek sophists of rhetoric. Their training gave the rich and privileged such an advantage in public speaking that democracy was threatened. Making respectable a new form of argument, in which evidence and logical structure predominated, was a very radical act of enlightened democratic education. Mathematics teaching in the form of open critical dialogue between teacher and taught remains a powerful form of education in democratic attitudes. Ambitions to produce political ideas as infallible as mathematics have a modern origin. In the early part of this century, mathematics education was again becoming universal throughout Europe. In the same period the belief arose that mathematics could eventually be completed as a single structure of truth. This transformed mathematics into a paradigm of democracy in which unorthodoxy must necessarily be eliminated. Communicated to people everywhere by universal education, this belief increased respect for similar political ideas. Gödel's proof that mathematics can never be completed came too late to correct these political effects, but modern teachers can again use mathematics as a proof of the value and success of democratic attitudes and ideas. Whilst mathematics itself is ethically neutral, the ethical principles which produced both democracy and mathematics and which can be conveyed in mathematics teaching are highly relevant to the modern world, and should be understood and taught by teachers everywhere.
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Mathematikunterricht ist demokratische Erziehung. Nach gängiger Vorstellung besitzt der Mathematikunterricht keine politischen Auswirkungen. Erstaunlicherweise wurde jedoch der Argumentationsstil, der heute in der Mathematik üblich ist, ursprünglich nicht nur für die Mathematik entwickelt. Die Funktion dieses Argumentationsstiles war es, ein Gegengewicht gegen den Rhetorikunterricht der frühen griechischen Sophisten zu schaffen. Durch deren Training erhielten Reiche und Privilegierte einen derartigen Vorteil für ihre öffentliche Reden, daß die Demokratie gefährdet war. Einer neuen Argumentationsform Ansehen zu verschaffen, in der Beweis und Logik dominieren, war ein außergewöhnlicher Akt aufgeklärter demokratischer Erziehung. In der Form eines offenen und kritischen Dialogs zwischen Lehrenden und Lernenden ist der Mathematikunterricht eine effektive Form der Erziehung hin zu demokratischen Einstellungen. Der Wunsch, politischen Ideen den gleichen Grad von Sicherheit zu verleihen, den mathematische Ideen haben, ist modernen Ursprungs. Als am Anfang dieses Jahrhunderts die mathematische Erziehung in Europa wieder allgemein üblich wurde, entwickelte sich gleichzeitig auch die Vorstellung, daß Mathematik als geschlossenes System unangreifbarer Wahrheiten vollendet werden könnte. Diese Vorstellung verwandelte die Mathematik in ein Paradigma einer Staatsform, in der unorthodoxes Denken notwendigerweise eliminiert werden mußte. Wenn dies aber dem durchschnittlichen Bürger überall als Allgemeinbildung vermittelt wurde, dann verstärkte es das Ansehen ähnlicher politischer Ideen. Der Beweis Gödels, daß Mathematik gerade nicht vervollständigt werden kann, kam zu spät, um diese politischen Auswirkungen zu korrigieren. Mit modernen Lehrmethoden aber kann heute der Unterricht der Mathematik den Nachweis für den Wert und Erfolg der demokratischen Einstellungen und Ideen führen. Obwohl Mathematik ethisch neutral ist, sind die gemeinsamen ethischen Prinzipien, die sowohl Demokratie als auch Mathematik schufen, für die moderne Welt äußerst relevant und sollten überall von Lehrern verstanden und unterrichtet werden.
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Ethnomathematics and Political Struggles
Gelsa Knijnik, Porto Alegre (Brazil)The paper analyzes and discusses a research study in an ethnomathematics approach, which was developed in a Movimento Sem-Terra (Landless People Movement) settlement in Brazil. The research study is organized as a pedagogical project with peasants, students, teachers and technicians experiencing the construction of an educational process in which local and more global knowledge interacts and where native and technical knowledge are confronted and incorporated. The project allowed the production of a double movement of making community life penetrate the school at the same time as knowledge produced during the pedagogical process pours out from the school space. The approach used in the pedagogical work developed in the Itapuí settlement focused on problems of practical and material needs. They were not transmuted into symbolic control problems, indicating other possibilities in the field of ethnomathematics, especially in mathematics education which is carried out with social movements such as the Landless People Movement. Based on her research, the author emphasizes that ethnomathematics finds its most relevant expression when it exposes its social engagement, when it does not treat cultural questions as exotic and unrooted elements, with no commitment to political struggles widespread throughout the world.
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Ethnomathematik und politischer Kampf. Der Beitrag analysiert und diskutiert eine Forschungsarbeit um einen ethnomathematischen Zugang, der in einer Siedlung der brasilianischen Bewegung landloser Menschen entwickelt worden war. Diese Studie ist als pädagogisches Projekt mit Kleinbauern, Schülern, Lehrern und Technikern organisiert, die das Entstehen eines Bildungsprozesses erfahren, in dem lokales und eher globales Wissen interagieren und in dem ursprüngliches und Fachwissen miteinander konfrontiert und integriert werden. Das Projekt ermöglichte zweierlei: zum einen das Eindringen des Gemeindelebens in die Schule, und zum anderen das Überspringen des im pädagogischen Prozeß gewonnenen Wissens nach außerhalb der Schule. Dem in der Itapuí-Siedlung entwickelten Zugang lagen Probleme praktischer und materieller Bedürfnisse zugrunde. Diese wurden nicht in symbolische Kontrollprobleme umgewandelt, sondern zeigen andere Möglichkeiten auf dem Gebiet der Ethnomathematik auf, insbesondere in der Mathematikausbildung, wie sie in sozialen Bewegungen wie der Bewegung landloser Menschen praktiziert wird. Auf der Grundlage ihrer Forschungen legt die Autorin dar, daß die Bedeutung der Ethnomathematik am besten in ihrem sozialen Engagement zum Ausdruck kommt, wobei kulturelle Fragen nicht als exotische Elemente ohne ihre Wurzeln behandelt werden, aber mit Engagement in den weltweit verbreiteten politischen Kämpfen.
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Linking Mathematics Education and Democracy: Citizenship, Mathematical Archaeology, Mathemacy and Deliberative Interaction
Ole Skovsmose, Copenhagen (Denmark)The relationship between mathematics education and democracy is discussed in terms of citizenship, mathematical archaeology, mathemacy and deliberative interaction. The first issue concentrates on the learner as a member of society; the second on the social functions of mathematics and on how to get to grips with mathematics in use; the third refers to an integrated kind of competence including different forms of reflection (mathematics-oriented, model-oriented, context-oriented and lifeworld-oriented reflections); the fourth issue considers the classroom as a micro-society and deals with the nature of the teaching-learning process. These four issues are discussed with reference to an example of educational practice, "Our Community'', carried out among sixteen-year-old students as an interdisciplinary project including a one-week trainee service. Finally, it is indicated that a discussion of mathematics education and democracy is essential to a further development of social theory, as the notions of citizenship, mathematical archaeology, mathemacy and deliberative interaction become part of the discussion about modernity, reflexive modernity and other constructs from recent social theory.
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Eine Verknüpfung von Mathematikunterricht und Demokratie: Bürger in der Gesellschaft, mathematische Archäologie, "mathemacy" und "deliberative" Interaktion. Die Beziehung zwischen Mathematikuntericht und Demokratie wird im Hinblick auf die Aspekte Bürger in der Gesellschaft, mathematische Archäologie, "mathemacy" (mathematische Bildung) und "deliberative" Interaktion diskutiert. Der erste Aspekt bezieht sich auf den Lernenden als Mitglied der Gesellschaft, der zweite auf die sozialen Funktionen der Mathematik. Bei dem dritten Aspekt geht es um eine umfassendere Kompetenz, die verschiedene Formen von Reflexion miteinschließt (mathematikorientierte, modellorientierte, kontextorientierte und lebensweltbezogene Reflexionen). Beim vierten Aspekt geht es um das Wesen von Lehr-Lern-Prozessen, wobei Unterricht als Mikrogesellschaft angesehen wird. Diese vier Aspekte werden im Hinblick auf ein unterrichtspraktisches Beispiel "Unsere Gemeinde" diskutiert, das einem fächerübergreifenden Projekt mit sechzehnjährigen Schülern entstammt. Schließlich wird gezeigt, daß eine Diskussion von Mathematikunterricht und Demokratie wesentlich für die Entwicklung einer Sozialtheorie ist, wenn der Bürger in der Gesellschaft, mathematische Archäologie, "mathemacy" und "deliberative" Interaktion Bestandteile der Diskussion um die Moderne, reflexive Moderne und andere Konstrukte der derzeitigen Sozialtheorie werden.
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Information
Geometrische Extremwertaufgaben in dynamischer Behandlung.
Prof. Dr. Heinz Kunle zum 70. Geburtstag
Heinz Schumann, Weingarten (Germany)Die Behandlung der Extremwertaufgaben in den aktuellen Schulbüchern weist gewisse Mängel auf. Der größte Teil der Extremwertaufgaben ist von geometrischer Art. Die Methoden der dynamischen Geometrie eröffnen neue Möglichkeiten der präformalen Behandlung geometrischer Extremwertaufgaben: Durch direkte Manipulation beweglich gemachte Figuren gestatten eine experimentelle Untersuchung quantitativer Figureneigenschaften mit dem Ziel, extremale Eigenschaften zu entdecken und approximativ zu bestimmen. Ein wesentliches Mittel ist dabei die Veranschaulichung quasi empirischer Funktionen in Form von Schaubildern. Als adäquates Werkzeug wird Cabri Géomètre II verwendet.
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Dynamic treatment of geometric extreme value problems. There are some shortcomings in the treatment of extreme value problems in current schoolbooks. Most extreme value problems are geometrical problems. The methods of dynamic geometry open up new possibilities of preformal treatment of geometrical extreme value problems. Figures made movable by direct manipulation permit an experimental investigation of their quantitative characteristics with the goal of detecting extremal properties and determining them approximatively. Illustration of quasi-empirical functions in the form of graphical representations is an important technique. Cabri Géomètre II is recommended as an appropriate tool.
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Didactics of mathematics as a scientific discipline: A sketch of its development from a personal (autobiographic) point of view
Hans-Georg Steiner, Bielefeld (Germany)At the 8th International Congress on Mathematical Education (ICME-8) held in Sevilla, Spain, July 1996, Working Group 25 was devoted to the theme "Didactics of Mathematics as a Scientific Discipline". The proceedings of this activity have been published by Nicolina A. Malara. The plenary talk given by the author on "Basic Characteristics and Recent Trends in the Development of Didactics of Mathematics as a Scientific Discipline" as well as the round-table discussion under his chairmanship are documented in the proceedings. Furthermore the author has contributed to the proceedings an autobiographicly oriented paper which goes back to his own time as a schoolboy and refers to his professional development in connections with various national and international institutions and movements. The present slightly extended reproduction of that contribution is mediating aspects of developmental dynamics which can hardly be grasped by highly objectified presentations.
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Didaktik der Mathematik als wissenschaftliche Disziplin: Ein Abriß ihrer Entwicklung von einem persönlichen (autobiographischen) Gesichtspunkt. Auf dem 8. Internationalen Kongreß für Mathematikdidaktik 1996 in Sevilla war die Arbeitsgruppe 25 dem Thema "Didaktik der Mathematik als wissenschaftliche Disziplin" gewidmet, wozu Nicolina A. Malara einen Berichtsband herausgegeben hat. Der vom Autor gehaltene Hauptvortrag zum Thema "Basic Characteristics and Recent Trends in the Development of Didactics of Mathematics as a Scientific Discipline" und die von ihm geleitete Podiumsdiskussion sind im Berichtsband dokumentiert. Für den Berichtsband hat der Autor sodann einen stark autobiographisch geprägten Beitrag abgefaßt, der bis auf die Schulzeit des Autors zurückgeht und einige Etappen seiner eigenen Entwicklung in Verbindung mit der nationalen und internationalen Entwicklung umreißt. Die hier punktuell präzisierte und erweiterte Wiedergabe des Beitrags vermittelt Aspekte von Entwicklungsdynamiken, die in stark objektivierten Darstellungen schwerlich zu erfassen sind.
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